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Zitat taz/ Deutschland vom 27.04.2024:

"Mary ist bald 80, das Leben geht dem Ende entgegen, so scheint es. Dann trifft sie Derek. Eine Geschichte aus einem britischen Seniorenheim. [...] Welches Lied war es nochmal? Mary kommt nicht darauf. Mit Sicherheit war es ein Klassiker. Eine Ballade. Vielleicht »You Are My Sunshine«? Aber eigentlich ist der Titel egal, es ging um die Stimme. Nicht die des Sängers – die kannte Mary gut genug, weil sie regelmäßig die Nachmittagsshows im Easterlea Seniorenheim besuchte. Nein, diese Stimme war neu, und sie gehörte einem Mann, der sich neben sie gesetzt und einfach mitgesungen hatte. Sie war so eingenommen davon, wie seine Stimme aus ihm herausbrach, glasklar und dem Alter trotzend, dass sie ihn einfach anstarren musste. Der Mann zwinkerte ihr zu. Frechdachs, dachte Mary.

Es ist nicht ganz klar, wie lange das her ist. Zwei, drei Jahre vielleicht? Mit dem Ablauf der Dinge, sowieso mit der Zeit an sich ist es kompliziert, manchmal verwirrend. Aber manches wissen wir mit Sicherheit. Marys voller Name ist Mary Turrell, und sie ist fast 80 Jahre alt. Sie lebte schon etwa ein, zwei Jahre im Easterlea Seniorenheim in Denmead, in der Nähe von Portsmouth im Süden Englands, als der Mann mit der Stimme auftauchte. Sein Name war Derek Brown.

Komisch, was in Erinnerung bleibt. Kristalline Momente, meist aus der Kindheit. Wie sie mit ihrem großen Bruder Ian in diesem einen Sommer ein Teleskop baute, zum Beispiel. Oder wie sie sich in einem zerbombten Krater im Wald versteckte. Der Keuchhusten und das Gefühl einer verkrusteten Wunde auf ihrer Oberlippe. Sie solle nicht daran rumpulen, sagte ihre Mutter, aber es war so verlockend. [...] Wenn man jung ist, versteht man nicht, was ein Sturz bedeuten kann. Wie sehr das weh tut. Nicht nur körperlich, sondern auch im Geiste [...] Nachdem Derek Mary traf, rief er nicht mehr so oft bei seiner Nichte an. Er und Mary hatten das Gefühl, sich für immer unterhalten zu können. Er beanspruchte den Stuhl neben ihr in der Lounge, wo alle einen festen Platz zu haben schienen. Joyce und Doreen links, die Dame mit den wunderschönen Haaren rechts. Menschen können besitzergreifend sein, wenn es um Sitzplätze geht.

Mary wollte alles über ihn wissen. Wie Newcastle war, wie sich das Leben an Bord eines Schiffs abspielte. Samstagmorgens sangen sie zusammen. Sie guckten Sport, irgendwelchen. Fußball, Männer- und Frauenspiele. Mary betonte gern, dass die Frauen mehr Pässe spielten. Meistens guckten sie Leichtathletik.

Sie eröffneten einander neue, kleine Welten. Mary brachte Derek zum Lesen, sie zeigte ihm Dan Brown, weil ihr die Verbindung so gefiel: Derek Brown liest Dan Brown. Er wiederum brachte sie zum Malen, mit Ausmalbüchern für Erwachsene, die gut fürs Gehirn sein sollen. Er liebte es zu zeichnen und zu malen. Alles, was er tat, schien er gut zu machen. Er puzzelte hingebungsvoll. Wenn ein Teil fehlte, krabbelte er auf dem Boden und zwischen den Stühlen herum, bis er es wiederfand. Er war der ordentlichste Mann, den Mary je getroffen hatte. Jedes Hemd, jeder Pullover lag gefaltet in einer Schublade. Das war der Einfluss der Marine. Und die Art, mit der er einen ansah: direkt in die Augen. Mary stellte sich vor, dass er genau so seine Kommandeure angesehen haben musste.

Es ist etwas anderes, jemanden so spät im Leben kennenzulernen. Weil man weiß, dass nicht mehr viel Zeit bleibt, ist die Liebe dringlicher. Fast wie bei der ersten großen Liebe, obwohl es wahrscheinlich die letzte sein wird. Nichts von dem, was eine Beziehung in der Mitte des Lebens vernebeln kann, spielt eine Rolle: Wer macht was, wer zahlt die Rechnungen, wer kocht. Mary und Derek hatten nichts zu tun, jedenfalls nicht so was.

Vorgegebene Zeitpläne und feste Strukturen sorgen in jeder Institution für eine Form der Infantilisierung. In einem Altersheim ist das nur offensichtlicher. Die Routinen, die Aktivitäten, Bastelstunden, gemeinsames Singen, der taktvolle Umgang mit Inkontinenz und Nickerchen – das alles hat einen Hauch von Kindergarten. Da sind liebe Menschen, meistens Frauen, die Dinge für dich erledigen und manchmal mit dir sprechen, als würdest du nicht richtig verstehen. Menschen, die dich waschen und füttern, wenn du es brauchst. [...] Die Tage nahmen neue Formen an. So früh er konnte, schlich sich Derek hinunter in Marys Zimmer. Und ja, da war Intimität zwischen ihnen. Sie schliefen nicht miteinander, aber das Verlangen war groß. Man hört nicht auf, so was zu fühlen, weil man alt ist. Derek schienen die vielen Arten, auf die ihr Körper sie betrog, nichts auszumachen. Dabei hätte Mary eine Liste erstellen können: [...] Es hat auch Vorteile, alt zu werden. Man kann unverschämter, unverblümter und ehrlicher sein [...] Mary hat niemals mit all dem gerechnet. Während ihrer Zeit mit Derek fühlte sie sich nicht nur geliebt oder noch einmal jung, sondern wirklich wahrgenommen. Er hat ihr Leben weit aufgerissen, als es gerade so schien, als würde es nur noch enger werden, immer enger, unaufhaltsam.

Was für ein Glück, wirklich. Zu wissen, dass so etwas kurz vor dem Ende möglich ist. [...]"
https://taz.de/Verliebtsein-im-Alter/!6004721/
Quelle: taz.de


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